Kinder und medizinische Vorsorge Wie viel ist zu viel? Redaktion Kinder aller Altersstufen sollen natürlich gesund sein – darin sind sich alle einig. Aber wo liegt die Grenze zwischen sinnvoller Vorsorge und übertriebener Elternfurcht?Ihr Kind ist drei Jahre alt und besucht den Kindergarten – es ist Herbst, die Schnupfnasensaison steht vor der Tür: Was tun? Das Kind zum Arzt bringen, ihm eine Grippe-Impfung geben lassen und dann mit eventuellen negativen Reaktionen des Kindeskörpers auf die Erreger leben? Oder wie sieht es mit den Großstädtern aus: Benötigen auch solche Kinder eine Zeckenimpfung (die zudem nur vor Hirnhautentzündung, nicht aber Borreliose schützt), deren hauptsächlicher Kontakt mit der Natur auf dem elterlichen Balkon und mit den dortigen Topfpflanzen stattfindet? Doch denken Sie noch ein wenig weiter: Was ist mit normalem Schmutz: Muss Desinfektionsspray zum Einsatz kommen, nachdem der Vierjährige den Nachbarshund geknuddelt hat, oder reicht auch eine ganz normale Dusche mit Seife aus? Vor solchen Fragen stehen Eltern nahezu tagtäglich – und viel zu oft fallen die Antworten „im Zweifel“ eher für die medizinische Vorsorge und übertriebene Sauberkeit aus. Natürlich ist das ganz grundsätzlich ein vollkommen verständlicher Vorgang: Wer möchte schon, dass sein Kind an vermeidbaren Krankheiten leidet? Aber diese Denk- und Handlungsweisen haben auch einige entscheidende Nachteile: Nicht jede Impfung ist so notwendig, dass ihre Vorzüge die negativen Auswirkungen überlagern. Nicht jede Vorsorge ist in Anbetracht der Lebensumstände wirklich sinnvoll. Dass es Impfungen gibt, die einfach jedes Kind benötigt, steht ebenso vollkommen außer Frage, wie die Notwendigkeit einer gewissen Grund-Sauberkeit. Aber es gibt auch Dinge, die eher den Charakter haben, dass sie mehr den dahinterstehenden „Helikopter-Eltern“ Beruhigung verschaffen sollen, als dem Kind wirkliche Sicherheit vor schweren Krankheiten zu geben. Und wieder andere Schritte solcher Eltern helfen sogar erst Erregern, eine umfassende Resistenz gegen bislang bewährte medizinische Therapien zu entwickeln. Welche das sind und warum zu viel Vorsorge oft nicht nur überflüssig, sondern schädlich ist, will der folgende Artikel anhand einiger Beispiele genauer erklären. Mama und das Desinfektionsspray Das renommierte Robert-Koch-Institut bestätigte 2013 in einem Bericht das, was viele schon immer vermuteten, von so manchem aber als Stammtischparole abgetan wurde: Die Zahl der Kinder, die allergisch auf Pollen und andere Auslöser reagierten, stieg in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch an. Und der Grund ist nicht etwa, wie manche Eltern behaupten, dass Kinder immer mehr Impfungen bekommen: Wissenschaftlich unumstößlich fanden Forscher nun heraus, dass zu viel Sauberkeit für die gestiegene Zahl von Allergien bei Kindern in der westlichen Hemisphäre verantwortlich ist: Sie injizierten Mäusen Enzyme, die ausschließlich in Stallungen und ähnlichen Gebäuden auf dem Land vorkommen – also dort, wo es nach landläufiger Ansicht „schmutzig“ ist. Anschließend wurden diese Mäuse sowie eine Testgruppe unbehandelter Tiere den typischen Auslösern von Heuschnupfen und Co. ausgesetzt. Das Ergebnis war zwar eindeutig, überrascht Gegner der „Desinfektionssprayer“ aber sicherlich kaum: Die Mäuse mit den „schmutzigen“ Enzymen im Leib entwickelten signifikant weniger Allergien. Auf Menschen umgelegt lautet das Endresultat also: Zu viel Sauberkeit sorgt bei Kindern dafür, dass ihr Immunsystem weniger trainiert ist. Und das wiederum führt im Umkehrschluss dazu, dass dieser wichtige Schutzmechanismus im Ernstfall einen Allergieauslöser nicht als solchen erkennt und ihn nicht richtig bekämpft – das Immunsystem weiß ja gar nicht, mit was es hier konfrontiert wurde, weil es nie Gelegenheit hatte, sich diese Polle, diesen Erreger einmal in abgeschwächter Form genauer anzuschauen. Die Folge: Kinder, die in „klinisch reinen“ Umgebungen aufwachsen, leiden sehr viel häufiger unter Allergien und Krankheiten. Für Eltern bedeutet das: Wie in der eingangs gestellten Frage mit dem Nachbarshund sollte im Zweifelsfall nicht die große Flasche Hygienespray aus dem Schrank genommen, sondern der eigene Sprössling schlicht und ergreifend in die Badewanne gesteckt und dort mit einem Stück Seife gereinigt werden – das reicht völlig. Mit Papa beim Kinderarzt Oh je, der Dreijährige war im Hof mit dem Dreirad unterwegs, nahm die Kurve an der japanischen Zierkirsche zu scharf und entdecke so nicht nur die Wirkung der Fliehkraft, sondern machte unfreiwillig Kontakt mit dem rauen Pflasterstein, der den Hof bedeckt. Nun ist der rechte Arm aufgeschürft, es blutet ein wenig. Eine ganz alltägliche Situation im Leben vieler Kinder. Was aber leider ebenso alltäglich ist: Mit welchem Übereifer manche Eltern ans Werk gehen, wenn es um Verletzungen ihrer Kinder geht. Bei aller verständlichen Empathie fehlt zuweilen schlicht eine realistische Sicht auf die Situation. So bedarf eine Schürfwunde in der Regel keines Einsatzes eines Antibiotikums. In diesem Fall wäre es besser, das Kind aufzusammeln, es zu trösten und hernach die Wunde einfach mit etwas Wasser auszuspülen und sie trocknen zu lassen – eine Schürfwunde ist schließlich kein offener Bruch und die körpereigenen Reparatur-Mechanismen werden auch bei Kindern mit ganz anderen Verletzungen fertig als einer Abschürfung. Und gleichzeitig hätte das Weglassen einer prophylaktischen Portion Antibiotika auch noch etwas bewerkstelligt: Die Neigung vieler Erreger, durch übermäßige Gabe von ebensolchen Mitteln resistent zu werden, wäre erfolgreich bekämpft worden. Denn: Schon heute befürchten Experten, dass in einigen Jahren gewöhnliche Infektionen nicht mehr geheilt werden können – die normalerweise einfach zu bekämpfenden Erreger wurden durch zu häufige Antibiotika-Einsätze abgehärtet. Auf zum Zahnarzt Mit Kindern zum Zahnarzt zu fahren ist ebenso ein zweischneidiges Schwert: Einerseits sollen die Beißer der Kleinen ja nicht nur sauber sein, sondern auch gerade wachsen – und das kann nur der Profi kontrollieren und korrigieren. Übertriebene Vorsorge fängt aber dort an, wo Kinder noch über ihre Milchzähne verfügen: Nicht wenige Eltern lassen schon Kindergarten-Kids eine Zahnreinigung angedeihen – schließlich sollen die Kleinen ja auf den Gruppenfotos durch weiße Zähne glänzen. Allerdings hat das gleich zwei Nachteile: Eine professionelle Zahnreinigung zählt als individuelle Gesundheitsleistung, wird also nicht von der Kasse übernommen. Auch die saubersten Milchzähne werden irgendwann im Grundschulalter ausfallen. Schon alleine deshalb sind diese Behandlungen bei kleinen Kindern vollkommen überflüssig. Was aber nicht bedeuten soll, dass sie generell nur etwas für Erwachsene wären: Denn sobald die bleibenden Zähne hervorkommen, wachsen sie bei nicht wenigen Kindern etwas schief und werden durch eine Zahnspange korrigiert. Und genau diese Kinder profitieren dann von einer Reinigung, weil das Drahtgeflecht einer Spange nun mal Zahnbürsten und –seide gewisse Grenzen setzt. Aber: So lange keine Zahnschmerzen auftreten, sollten sich die Kontrollbesuche beim Dentisten auf die jährlichen Empfehlungen beschränken. Geimpft = gesund? Vor allem die erste Impfung ist die schwerste: Sowohl für Kleinkinder als auch die Eltern. Da bekommt das geliebte und behütete Baby Spritzen in Arm oder Po, es fließen Tränen und nicht selten sorgt auch die niedrige Dosierung der verschiedenen Krankheitserreger für heftiges Fieber und schlaflose Nächte in den darauffolgenden Tagen. Dies und die von manchen Menschen angezweifelte Wirksamkeit von Impfungen sorgen seit Jahrzehnten für erhitzte Gemüter auf beiden Seiten. Fakt ist jedoch: Erst die flächendeckenden Impfungen sorgten beispielsweise bei Polio dafür, dass diese Geißel in unseren Breiten der Vergangenheit angehört. Aber: Nicht jede Impfung ist für jedes Kind in Deutschland wirklich notwendig. Etwa die gegen durch Zecken übertragene FSME, Frühsommer-Meningoenzephalitis. Das Risiko, daran zu erkranken, ist nur in Hessen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg hoch. In anderen Bundesländern und besonders (nördlichen) Großstädten ist die Zecke zu gering verbreitet, sodass eine Impfung trotz Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) nicht für jedes Kind erforderlich ist. Generell sollte aber den restlichen Vorschlägen des Expertengremiums Folge geleistet werden. Aber: Dabei sollten auch vorsichtige Eltern es bewenden lassen. Sofern das Kind nicht zu einer Risikogruppe gehört, sind weitere Impfungen erst einmal wirklich überflüssig und schaffen oft mehr Probleme als Nutzen. Fazit Die elterliche Sorge um das Wohlergehen des Kindes ist ein äußerst kritischer Balanceakt: Einerseits kann nur regelmäßige Vorsorge Kinder davor bewahren, an wirklich schlimmen Krankheiten zu leiden. Andererseits aber fördert zu viel Vorsicht erst vieles, was Eltern eigentlich partout vermeiden wollten. Sicherlich lässt sich viel über Obrigkeitshörigkeit diskutieren, aber fest steht: Diejenigen, die etwa Impfempfehlungen aussprechen, wollen zu allererst einmal, dass Kinder gesund bleiben – falls es jemals ein von Impfgegnern oft angeführtes Interesse der „Pharmalobby“ gab oder gibt, steht es weit hinter diesem Primärinteresse. Umgekehrt sollten Eltern normal gesunder Kinder auch bei diesen Empfehlungen den Schlussstrich ziehen, sofern keine zusätzlichen Risikofaktoren dagegen stehen. Und auch ängstliche Papas und Mamas sollten sich gewahr werden, dass die Realität immer stärker sein wird, als die größte Fürsorge. Deshalb ist es besser, Kids auf diese Realitäten vorzubereiten, anstatt sinnlos zu versuchen, sie davon abzuschirmen.