Gesundheitswissen Gesundheit und Krankheit fangen in der Familie an Redaktion Gesundheit und Krankheit sind heikle Themen. Oftmals neigen die Menschen dabei dazu, sie den Betroffenen als individuelle Leistung bzw. individuelles Verschulden zuzuschreiben. Die Realität sieht allerdings ganz anders aus. Denn Gesundheit und Krankheit finden ihren Ausdruck zwar immer in konkreten Individuen; ihre Ursachen sind jedoch überindividuell und speisen sich aus konkreten Familiendynamiken einerseits sowie aus übergeordneten sozialen Zusammenhängen andererseits. Kurz: Gesundheit und Krankheit sind eben nicht bloß individuelle, sondern durch und durch soziale Phänomene. Gesundheit und Krankheit als soziale Phänomene Schon beispielsweise der französische Wissenschaftler und einer der Gründerväter der Soziologie, Émile Durkheim, stellte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest, dass Menschen, die weniger in eine Gemeinschaft eingebunden sind, eher Selbstmord begehen, weil sie sich sozusagen in geringerem Maße bestimmten sozialen Normen verbunden fühlen. Der Selbstmord, so die Essenz, ist kein individuelles Phänomen, obwohl es auf den ersten Blick den Anschein erwecken mag, dass Menschen sich freiwillig dazu entscheiden. So gesehen erscheint beispielsweise auch die Debatte um die aktive Sterbehilfe in einem anderen Licht: Ist der Sterbewunsch, so lässt sich soziologisch fragen, wirklich eine gänzlich individuelle, freiwillige Entscheidung oder hat seine Genesung nicht vielmehr mit übergeordneten sozialen Dynamiken zu tun (familiäre Konflikte, sozioökonomischer Status, Arbeitslosigkeit, Vereinsamung etc.)? Sportliche Aktivität hängt vom Bildungsgrad ab Wir brauchen allerdings zeitlich gar nicht so weit zurückgehen und auch nicht den Selbstmord als Beispiel heranziehen, um nachzuweisen, dass Gesundheit und Krankheit durch und durch soziale Phänomene sind. So weiß man heute beispielsweise, dass sportliche Aktivität stark mit dem Bildungsgrad korreliert: Je höher die Bildung, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Sport treibt und desto unwahrscheinlicher wird es auch, dass er oder sie irgendwann mit dem Sport aufhört. Dies hat damit zu tun, dass mit einer höheren Bildung ein höheres Wissen bezüglich Gesundheit einhergeht. Dieses wird sodann sozialisatorisch in den Familien entsprechend weitergegeben. In bildungsferneren Schichten ist dies nicht der Fall, weshalb es zur einer Reproduktion sozialer Ungleichheit kommt: Die wohlhabenden und bildungsnahen Schichten »vererben« ihr Gesundheitswissen sozialisatorisch immer weiter, während die bildungsfernen dies nicht tun und in Sachen Gesundheit somit gleichsam immer weiter abgehängt werden. Schließlich sind Höhergebildete natürlich auch finanziell besser gestellt und können sich so Gesundheitsartikel eher leisten als die weniger gebildeten und ökonomisch schlechter gestellten Zeitgenossen. Selbst im Falle von Krankheit bzw. Krankheitsversorgung haben sie damit eine bessere Ausgangsposition: Wenn ihr Kind etwa an Bluthochdruck leidet, so können sie sich beispielsweise nicht nur hochwertige Blutdruckmessgeräte für das Kind leisten, sondern erhalten oftmals auch eine bessere oder bevorzugte Behandlung beim Arzt und können sich höherwertigere Lebensmittel sowie spezielle Sportkurse und dergleichen mehr genehmigen. Übergewicht hat mit Bildung und Einkommen zu tun Auch Krankheiten wie Übergewicht und Adipositas finden ihre Ursache in sozialen Zusammenhängen. Da bildungsnahe Familien über ein umfassenderes und besseres Gesundheitswissen verfügen, können sie dieses an ihre Kinder weitergeben, was im Endeffekt dazu führt, dass diese Kinder nicht so häufig übergewichtig werden bzw. sind, wie Kinder aus bildungsfernen Familien. Sie ernähren sich nicht nur anders, sondern treiben auch häufiger Sport, rauchen nicht und trinken weniger Alkohol. Zudem sind sie in entsprechende Netzwerke aus Ärzten, Wissenschaftlern und anderen Experten eingebettet, was dazu führt, dass sie nicht nur weiterhin mit besserem Wissen bezüglich Ernährung und Bewegung »versorgt« werden, sondern auch leichteren Zugang zu entsprechenden kulturellen Einrichtungen (Vereine, Veranstaltungen, Filme, Dokus etc.) erhalten. Natürlich können wir Gesundheit und Krankheit im Endeffekt immer auch selbst beeinflussen. Doch so sehr eine bestimmte Erkrankung oftmals eine Sache reines Zufalls und insofern von uns vollkommen unbeeinflussbar ist, so stark sind wir in unserem Gesundheitswissen und -verhalten auch von unseren Familien und übergeordneten gesellschaftlichen Strukturen (Wirtschaft, Politik) geprägt, sodass es gänzlich falsch und eine unzulässige Verkürzung darstellte, Gesundheit und Krankheit, als bloß individuelle Angelegenheiten abzustempeln.