Kind und Eltern Mein Kind ist mir unsympathisch Barbara Benz Viele kennen die Situation, wenn seltener Besuch da ist und das Kind sich aufführt, dass man im Boden versinken möchte. Was aber, wenn man zeitweise an seinem Charakter zweifelt? Ja, sein Wesen regelrecht unsympathisch findet? Bei Müttern neugeborener Babys kommt es durchaus vor, dass sie nicht sofort eine enge Bindung zu ihrem Kind haben, sondern zunächst mit vielen Fragezeichen in den Augen vor ihrem Nachwuchs stehen. Sie müssen ihr Baby erst kennen lernen und brauchen eine gewisse Zeit, bis sie eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben und eine innige Verbundenheit spüren. Suspektes Verhalten Im Fall meiner Bekannten Elisabeth verhielt es sich jedoch anders. Sie hatte mit ihrer Tochter Maja viele glückliche Kleinkind-Jahre verlebt. Als Maja jedoch älter wurde, stand sie ab und zu vor ihr und fragte sich: „Wer bist du? Warum machst du so etwas? Wie kannst du nur so dreist sein?“ Teilweise blieb ihr die Luft weg, wenn Maja eine taktlose Bemerkung machte. Schließlich kam sie in Situationen, wo Maja ihr nicht nur suspekt, sondern sie von ihrem Verhalten geradezu abgeschreckt war. Da ich Maja und Elisabeth nicht häufig zusammen erlebte, hatte ich für mich eine schnelle Erklärung gefunden. Ich vermutete, dem Kind waren bisher in der Erziehung keine klaren Grenzen gesetzt worden, es hatte keine Linie und Standpunkte gegeben und Maja war einfach eine verzogene achtjährige Göre. Das machte bei genauer Betrachtung jedoch keinen Sinn, gab es doch in der Familie zwei Geschwister, die nach gleichen Maßstäben aufwuchsen, aber ganz und gar nicht unsympathisch waren. Die Gene vom Ex Elisabeth dämmerte bezüglich ihrer Tochter mit der Zeit eine andere Einsicht. Die Überheblichkeit, Unzuverlässigkeit und Provokationen, mit denen Maja sie immer wieder frustrierte, erinnerten sie stark an das Verhalten ihres Ex-Mannes. Eine bittere Erkenntnis war das. Verzweifelt versuchte die Mutter dagegen zu arbeiten. Sie wollte Maja vermitteln – mal lauter, mal leiser – dass man mit Arroganz nicht weit kommt im Leben, Unzuverlässigkeit andere abschreckt und bemühte sich, ihr Gegenteiliges vorzuleben. Aber der Erfolg war mäßig. Bescheidenheit und Zuverlässigkeit würden wohl niemals Majas Stärken werden. Nobody’s perfect Kürzlich traf ich Elisabeth wieder. Sie hat tatsächlich einen Weg gefunden, ihr Kind mit anderen Augen zu sehen. Konnte Maja sie früher schnell verletzen, lässt sie das heute weniger an sich heran. Es hilft ihr, den Blick auf sich selbst zu richten. „Ich habe von meinen Eltern auch unerwünschte Erbmasse mitbekommen. Manchmal bin ich extrem launisch und das krieg‘ ich trotz meiner 42 Lebensjahre noch nicht in den Griff“. Zudem weiß Elisabeth inzwischen, dass Maja Freunde hat, die offensichtlich nicht halb so kritisch sind wie sie selbst, und Maja vieles gar nicht krumm nehmen oder ihr schnell verzeihen. Gemeinsamkeiten suchen Elisabeth macht noch mehr, um sich Maja näher zu fühlen. Sie sucht Gemeinsamkeiten und baut darauf auf. Unternimmt Dinge, die beide mögen, sucht Beschäftigungen, die beiden Spaß machen und die sie verbinden. Und denkt an die Maja, die ihr so gut gefällt. Die ihren Bruder auf dem Schulhof mutig verteidigt, die mit Kissen- und Decken-Arrangements eine gemütliche Atmosphäre in der Wohnung schafft oder minutenlang verträumt in einen Teich starrt. Dann ist ihr bewusst, dass es immer nur wenige Momente sind, in denen sie ihre Tochter nicht recht mag. Und dass es hunderte gibt, in denen sie sie wahnsinnig liebt.